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Wer gewinnt den Oscar 2006

Die Oscarnominierungen für dieses Kalenderjahr werden zwar erst am 31. Januar 2006 bekannt gegeben (die Verleihung findet am 5. März statt), die heiße Phase des Wahlkampfes hat für die Produktionsfirmen jedoch längst begonnen. Während die großen Studioproduktionen, deren US-Kinostart noch aussteht, bereits im Voraus durch forcierten Branchen-Hype als Oscarkandidaten gehandelt werden, konnten einige ambitionierte Independentstreifen die wichtigen Festivals von Toronto und Venedig im September nutzen, sich ihrerseits in Stellung zu bringen und die Aufmerksamkeit der Filmindustrie zu erregen. Die meisten der diskutierten Filme haben in den kommenden Wochen auch in Deutschland ihren Kinostart, was die ganze Oscar- Spekuliererei vor allem zu einem willkommenen Anlass macht, sich als Kinofan einmal einen Überblick zu verschaffen über einige vielversprechende Streifen, die demnächst einen Kinobesuch lohnen könnten- egal, ob es schließlich tatsächlich etwas mit dem Oscar wird.

Falls ich nicht völlig daneben liege, können sich in den drei Hauptkategorien folgende Kandidaten Hoffnungen auf eine Nominierung machen:

BESTER FILM: Das Filmfestival in Venedig brachte zwei große Sieger hervor, die für einige Kontroversen sorgen werden: Ang Lees Brokeback Mountain (Deutschlandstart 09.03.2006) erzählt die Liebesgeschichte zweier schwuler Cowboys, und dürfte es allein aus diesem Grund ziemlich schwer haben mit den Oscar- Juroren, die nicht gerade für ihre sexuelle Aufgeschlossenheit bekannt sind. Und dennoch wäre es verfrüht, Brokeback Mountain bereits abzuschreiben. Der Film setzt nämlich nicht auf sexuelle Provokation, sondern konzentriert sich auf romantische Andeutungen und atmosphärische Bilder. So ist die Liaison der Protagonisten (gespielt von Heath Ledger und Jake Gyllenhaal) äußerst dezent und massentauglich vor malerischer Bergkulisse in Szene gesetzt. Wenn das amerikanische Publikum ebenso bewegt reagiert wie die venezianischen Zuschauer, hat Ang Lees unkonventioneller Cowboyfilm durchaus eine Chance.
Der zweite umjubelte Gewinner in Venedig war ohne Zweifel George Clooney, der künstlerisch – spätestens seit seinem starken Debütfilm Geständnisse - Confessions of a Dangerous Mind – keineswegs auf sein oberflächliches Dolce Vita-Image reduziert werden sollte. Sein neuer Film Good Night, and Good Luck ist nicht nur eine präzise Analyse der angsterfüllten US-Gesellschaft unter dem fanatischen Senator und Kommunistenjäger McCarthy in den frühen fünfziger Jahren, die Parallelen zum heutigen Amerika unter George W. Bush sind mit angedacht und machen seinen Film bedrohlich aktuell. Falls die Academy sich ihrer politisch liberalen Wurzeln besinnt, dann kann George Clooneys ambitionierter Schwarzweiß-Film mit einer Nominierung rechnen. Es wäre ihm zu wünschen.

Das parallel zu Venedig gestartete Festival in Toronto brachte vor allem drei aussichtsreiche Streifen hervor: Der Johnny Cash-Biopic Walk the Line (Deutschlandstart 02.02.2006) mit Joaquin Phoenix in der Titelrolle hat das Potential zu einem packenden Film, jedoch muss sich erweisen, ob das Publikum nach dem Erfolg von Ray erneut für eine Musiker-Biographie zu begeistern ist. History of Violence von David Cronenberg ist zwar etwas massentauglicher als frühere Werke seines Regisseurs, die nüchtern präsentierte Gewaltdarstellung könnte allerdings ein Problem darstellen. Die Academy akzeptiert Gewalttätigkeit vor allem dann, wenn sie durch ein feierliches Pathos getragen wird, wie in Braveheart oder Der Herr der Ringe-Trilogie. Die dritte Entdeckung von Toronto war Capote, mit Philip Seymour Hoffman in der Titelrolle des exzentrischen Schriftstellers und Society-Darlings Truman Capote. Der Film schildert die düsterer Episode von Capotes Nachforschungen zu seinem Roman Kaltblütig (im übrigen äußerst lesenswert und nervenaufreibend), die ihn in die Einöde von Kansas verschlagen, dem Schauplatz eines grausamen Verbrechens an einer Farmerfamilie im November 1959. Sowohl eine Sozialstudie amerikanischer Lebenswirklichkeiten, als auch die Ergründung der psychologischen Abgründe eines Verbrechens: Es bleibt vor allem die Frage, ob Capote nicht zu anspruchsvoll für die Oscar-Jury und das breite Publikum ist.

Als potentieller Kassenhit und Oscar-Nachfolger des RonHoward/Russell Crowe-Vehikels A Beautiful Mind gestartet, ist Das Comeback im Frühjahr kläglich abgesoffen. Zwar stimmt der sentimentale Touch der Geschichte, wenn es jedoch mit einer Nominierung klappen soll, muss die Produktionsfirma über einen Neustart zu Weihnachten nachdenken (eine ähnliche Strategie verfolgte 1995 der finanzielle Flop Braveheart, und gewann tatsächlich noch). Es bleibt die Frage, ob nach Million Dollar Baby schon wieder ein Boxerfilm nominiert wird. Vermutlich eher nicht.
Viel bessere Chancen hat da wohl der neue Streifen von Steven Spielberg, der allem Anschein nach den nächsten Oscar-Coup plant. Sein Film München (Deutschlandstart 26.01.2006) wird zu diesem Zeitpunkt noch in aller Schnelle geschnitten, um ihn bis Ende Dezember in die US-Kinos zu bringen und somit für das Oscar-Rennen zu qualifizieren (der Kinotrailer kursiert bereits im Netz). Der Film erzählt die Geschichte des Olympiaattentats von München 1972, als eine palästinensische Terrorgruppe in das olympische Dorf eindrang und die israelische Sportmannschaft überfiel. Eine äußerst kontroverse Thematik, mit der Spielberg viel Staub aufwirbeln wird, bedenkt man den noch immer hochbrisanten Konflikt im Nahen Osten. Gelingt ihm der Spagat zwischen einer ausgewogenen politischen Darstellung und packender Kinounterhaltung, ist er einer der Favoriten. Scheitert er mit seinem brisanten Projekt, ist er immer noch als Produzent von Die Geisha (Deutschlandstart 19.01.2006), der aussichtsreichen Verfilmung eines Bestsellers von Arthur Golden, im Rennen. Gedreht vom Chicago-Regisseur Rob Marshall mit asiatischer Top-Besetzung (Zhang Ziyi in der Titelrolle, zudem Gong Li und Michelle Yeoh in Nebenrollen), entführt der Film den Zuschauer in die japanische Vergangenheit des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, und bietet neben opulenten Kulissen eine Liebesgeschichte vor dem Hintergrund dramatischer historischer Ereignisse. Alles in allem ein nahezu prototypischer Oscar-Film. Und ein Kassenhit wird’s wohl auch werden.

Als Woody Allen im Mai beim Filmfestival in Cannes seinen neuen Film Match Point (Deutschlandstart 29.12.2005) vorstellte, gab es einhellige Begeisterung wie schon lange nicht mehr. Die sarkastische Geschichte um die Intrigen in einer privilegierten Londoner High Society-Sippschaft bedeutet eine Standortneubestimmung für Woody Allen, die sich auszahlen könnte. Die hochgesteckten Erwartungen an den Film Jarhead (Deutschlandstar 05.01.2006) von American Beauty-Regisseur Sam Mendes, der die deprimierende Geschichte eines Golfkriegveterans erzählt, dürften sich – trotz beachtlichem Einspielergebnis in den ersten Wochen – aufgrund der eher mäßigen Kritikerresonanz nicht erfüllen. Ein großes Fragezeichen steht hinter dem Pocahontas-Projekt The New World von Terrence Malick (zuletzt Der schmale Grat), in dem Hauptdarsteller Colin Farrell nach dem Alexander-Flop einen weiteren Oscar-Anlauf wagt. Viel hängt davon ab, ob sich der epische Abenteuerfilm an der Kinokasse gegen die starke Konkurrenz behaupten kann. Der ewige Gärtner (Deutschlandstart 12.01.2006), bereits im September in den USA gestartet, erzählt die Geschichte eines Ehepaares (gespielt von Rachel Weisz und Ralph Fiennes), das den kriminellen Machenschaften der Pharmaindustrie in Afrika auf der Spur ist. Die Kritiken waren hervorragend, aber die Zeit bis zu den Nominierungen könnte sich als zu lang erweisen, bedenkt man das notorische Kurzzeitgedächtnis der Academy.

Das große finanzielle Prestige-Objekt des Winters ist wohl unbestritten der von Universal produzierte neue Peter Jackson-Film King Kong, der kurz vor Weihnachten starten wird (Deutschlandstart 14.12.2005). Die Academy wird kaum davor zurückscheuen, einen spektakulären Unterhaltungsfilm zu nominieren, zumal dann nicht, wenn das Publikum in die Kinos strömt. Es bleibt zwar abzuwarten, ob die Kritiker Jackson nach seinen großen Erfolgen der letzten Jahre eins auswischen wollen, aber die Tatsache, dass kaum jemand King Kong ernsthaft auf der Oscar-Rechnung hat, könnte sich als Fehler erweisen.

Mein Tipp für die fünf Nominierungen: Brokeback Mountain, Good Night and Good Luck, King Kong, Die Geisha, München.


BESTE WEIBLICHE HAUPTROLLE: Zwei der größten weiblichen Hollywoodstars der jüngeren Generation können womöglich auf eine Oscarnominierung hoffen. Scarlett Johansson, zuletzt schmählich übergangen, hat wohl einen gut bei der Academy. Zudem spielt sie im neuen Woody Allen-Streifen Match Point. Es bleibt vor allem die Frage, ob ihre Rolle eher als Haupt- oder als Nebenrolle eingestuft wird. Noch besser stehen die Chancen für Reese Witherspoon, die nach etlichen Kassenerfolgen nun auf den künstlerischen Durchbruch hofft. Ihre Rolle als Johnny Cash-Gattin in Walk the Line ist künstlerisch herausfordernd, und erste Kritiken sind vielversprechend.
Einige altbekannte Gesichter dürften auch im nächsten Jahr wieder zu sehen sein. Ein zweiter Oscargewinn so kurz nach Monster ist zwar für Charlize Theron kaum drin, eine Nominierung für ihre Rolle als engagierte Kämpferin gegen sexuelle Belästigung in Kaltes Land (Deutschlandstart 09.02.2006) von Niki Caro (zuletzt Whale Rider) ist jedoch wahrscheinlich. Die Academy mag solch sozial brisante Rollen.

Die Tatsache, dass einige der Grand Dames des Hollywoodkinos einmal mehr im Gespräch für eine Nominierung sind, deutet auf ein eher schwaches Jahr ohne große Auswahl hin. Meryl Streep (bereits zwölfmal nominiert) spielt in dem Film Couchgeflüster (Deutschlandstart 26.01.2006) (und hat im übernächsten Jahr noch bessere Chancen als Vogue-Chefredakteurin in Der Teufel trägt Prada), Diane Keaton agiert in der Komödie Die Familie Stone (Deutschlandstart 15.12.2005) (könnte jüngsten Spekulationen zufolge jedoch als Nebendarstellerin beworben werden), und Joan Allen bekam viel Lob an der Seite von Kevin Costner in An Deiner Schulter. Judi Dench hofft in Mrs. Henderson Presents (Deutschlandstart 23.03.2006), einem Stephen Frears-Kostümfilm aus der Theaterbranche, auf den ersten Hauptrollen-Oscar. Gut für sie, dass der Film von der neugegründeten Weinstein-Company vertrieben wird. Die Weinstein-Brüder, die in einem aufsehenserregenden Branchen-Coup Miramax verlassen haben, wissen nur zu gut, wie man einen Oscar-Wahlkampf aufzieht. Von solcherlei prominenter Hilfe kann Maria Bello als zweifelnde Ehefrau an der Seite von Viggo Mortensen in History of Violence nur träumen. Gwyneth Paltrow hat trotz aller Anerkennung für ihre Rolle als Filmtochter von Anthony Hopkins in dem Vater/Tochter-Drama Proof von John Madden ein Handicap. Nicht wenige Academy-Mitglieder haben das Gefühl, ihr mit dem etwas schmeichelhaften Oscar für Shakespeare in Love für unbestimmte Zeit erstmal genug Gutes getan zu haben.

Stolz und Vorurteil liefert nicht nur den Beweis, dass eine Jane Austen-Verfilmung durchaus Spaß machen kann, sondern glänzt zudem mit der tollen Keira Knightley. Auch Desperate Housewives-Actrice Felicitas Huffman sehen viele im Rennen, für ihre Rolle im Independentfilm Transamerica. Wie gesagt, an aufregenden Frauenrollen mangelt es in diesem Jahr.
Erfreulich wäre zweifellos die Berücksichtigung von Zhang Ziyi, die bereits in Tiger & Dragon, 2046 oder auch House of Flying Daggers schauspielerische Akzente setzte. Sie ist mit einem der großen Oscar-Kandidaten des Jahres im Rennen, als Geisha in den Die Geisha. Wenn nichts schiefläuft, wird das ihr Durchbruch in den USA. Aber wer Asien erobert hat, wer braucht da noch Hollywood?

Mein Tipp: Judi Dench in Mrs. Henderson Presents, Keira Knightley in Stolz und Vorurteil, Charlize Theron in Kaltes Land, Reese Witherspoon in Walk the Line, Zhang Ziyi in Die Geisha.


BESTE MÄNNLICHE HAUPTROLLE: Drei Nominierungen scheinen, bei aller Vorsicht, vergeben: Joaquin Phoenix als Johnny Cash in Walk the Line ist selbst dann, wenn es der Film nicht schafft, sicherlich dabei. Das Gleiche gilt für den längst fälligen Philip Seymour Hoffman als Truman Capote in gleichnamigem Film: Beides sind schillernde, in der amerikanischen Kulturlandschaft fest verwurzelte historische Figuren. Nicht schaden kann, dass die Filme selbst auch sehr gut von der Kritik aufgenommen wurden. Schließlich der bislang eher durch Nebenrollen bekannte David Strathairn in George Clooneys Good Night, and Good Luck. Die Rolle ist ein politisches Fanal für den investigativen Journalismus: Strathairn spielt Edward Murrow, den mutigen Gegenspieler von Senator McCarthy. Die Message für Meinugsfreiheit und Zivilcourage lässt sich die Academy nicht nehmen, auch wenn Strathairn nicht in die Kategorie des schillernden Hollywoodstars passt. Aber auch das ist kein Problem, wenn er einfach seinen Regisseur mit aufs Podium nimmt!

Eine Reihe bekannter Namen fightet um die verbleibenden zwei Plätze: Bill Murray hat, trotz einiger anderslautender Prognosen, kaum Chancen. Broken Flowers ist in der Erinnerung vieler rasch verblasst, und außerdem spielt er nach dem gleichen bewährten Schema wie in Lost in Translation. Viggo Mortensen wäre eine tolle Entscheidung in History of Violence, der Film ist jedoch nicht nach Academy-Geschmack. Heath Ledger bekam viel Lob als schwuler Cowboy an der Seite von Jake Gyllenhaal in Brokeback Mountain. Eine Nominierung ist durchaus denkbar. Tommy Lee Jones hat fast noch bessere Chancen in seinem Cannes-Hit The Three Burials. Der Film ist zwar schräg und klein, Jones ist jedoch ein echter Charaktertyp - sowas schätzt man. Johnny Depp spielt den zweiten Earl of Rochester (17. Jahrhundert) im Kostümfilm The Libertine und hat dabei, ebenso wie Judi Dench, die Weinstein-Company im Rücken. Den Film gesehen hat jedoch noch niemand. George Clooney ist, neben seinen Regieambitionen, auch als schwergewichtiger CIA- Agent in Stephen Gaghans (Drehbuch-Oscar für Traffic) Regiedebüt Syriana (Deutschlandstart 23.02.2006) im Rennen, übrigens an der Seite von Matt Damon. Jeff Daniels, seit den achziger Jahren abgetaucht, ist zurück mit dem gefühlvollen Familiendrama The Squid and the Whale, während Ralph Fiennes in Der ewige Gärtner für Aufsehen sorgt. Schwierig wird´s für Russell Crowe, aus den gleichen Gründen, die schon gegen den gesamten Film Das Comeback angeführt wurden. Eine offene Frage bleibt schließlich, wie gut Eric Banas Rolle in Spielbergs München ist. Der Film ist noch nicht fertiggestellt, aber es ist durchgesickert, dass Bana einen Mossad-Agenten auf der Jagd nach den palästinensischen Terroristen spielt. Prima Rolle, aber alles noch sehr vage.

Mein Tipp: Eric Bana in München, Philip Seymour Hoffman in Capote, Tommy Lee Jones in The Three Burials, Joaquin Phoenix in Walk the Line, David Strathairn in Good Night, and Good Luck.

Die Nominierungen für das Jahr 2005 werden am 31. Januar bekannt gegeben. Wie in jedem Jahr könnt ihr dann hier eure Favoriten tippen und gegen die Redaktion antreten. Die Oscarnacht ist am 05. März 2006.

Dominik Rose
14.11.2005



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